„Sicheres Drittland“ Türkei: Vier Fehler der westlichen Staatengemeinschaft und die notwendige Umkehr
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Was kann getan werden, um die Türkei zu einem Prozess der Rückkehr zu Demokratisierung, Aussöhnung und Rechtsstaatlichkeit zu bewegen? Verfasser Guido F. Gebauer analysiert die vier entscheidenden Fehler der westlichen Staatengemeinschaft, die maßgeblich den Zusammenbruch des jahrelangen Demokratisierungsprozesses in der Türkei verursachten. Aus seiner Analyse leitet er Möglichkeiten ab, wie die westliche Staatengemeinschaft durch einen Kurswechsel der Eskalation entgegenwirken und so Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei fördern könnte. Der Beitrag warnt vor einer Politik des Zuschauens und des „Weiter so“, um den Flüchtlingsdeal mit der Türkei zu retten. Für diesen Deal hätten die EU-Staaten einstmals den sicheren Drittstaat Türkei erfunden, ein Land, welches weder damals noch heute existiert habe. Mit ihrem Kurs hätten die EU-Staaten letztlich die Eskalation in der Türkei befördert. Gleichzeitig hätten sie für sich selbst Glaubwürdigkeit als Vertreter von Menschenrechten, Wahrhaftigkeit und Rechtsstaatlichkeit verspielt. Eine Kurskorrektur sei daher überfällig.
Das „sichere Drittland“, als welche die Regierungen der EU die Türkei bezeichnen wollen, steht vor blutigen Säuberungen. Nach dem gescheiterten Putschversuch werden wohl alle Glaceehandschuhe ausgezogen werden, um den berüchtigten US-amerikanischen Spruch zu Guantanamo zu zitieren. Zu erwarten sind: Säuberungen, Inhaftierungen, Folter, Tötungen, auch die Fortsetzung des Bürgerkrieges mit den Kurden.
In der Türkei ist ein jahrelang hoffnungsvoller Prozess der Demokratisierung und der Aussöhnung mit den Kurden abgebrochen worden. Für die Eskalation der Gewalt und die Destabilisierung des Landes trägt nicht nur der türkische Präsident Erdogan und seine Gefolgschaft Verantwortung, sondern ebenso die westliche Staatengemeinschaft.
Dies waren die Fehler der westlichen Staatengemeinschaft:
- Mangelnde Unterstützung der Demokratisierung - Als die Türkei eine konsequente Demokratisierung und Aussöhnung mit den Kurden betrieb, antworteten die Staaten der europäischen Union mit einer Politik der Fernhaltung der Türkei von Europa. Maßgebliche Verantwortung hierfür trugen vor allem die konservativen Kräfte, in der Bundesrepublik Deutschland CDU/CSU, auch Angela Merkel persönlich. Anstatt Demokratisierung und Achtung von Menschenrechten mit zunehmender Integration zu belohnen, die Türkei einzubinden und so auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für die Türkei verpflichtend zu machen, wurde signalisiert, dass die Türkei in Europa nicht willkommen sei. Dadurch wurde ein Prozess der Entfremdung von Europa gefördert.
- Eintritt in den Libyen Krieg - Der westliche Kriegseintritt in Libyen war der Ausgangspunkt für einen Flächenbrand, der nicht nur zur Zerstörung der libyschen Gesellschaft führte, sondern ebenfalls die Ausbreitung des islamischen Fundamentalismus weltweit massiv beschleunigte. Libyen wurde zu einem Ort gewaltsamer Milizenherrschaft, in den sich Islamisten weiterhin zurückziehen können und von wo aus der Waffenhandel bis hin zur Boko Haram nach Nigeria betrieben wird. Gleichzeitig markiert der Libyen Krieg den Beginn einer Radikalisierung der türkischen Außenpolitik, die - damals noch in voller Übereinstimmung mit der westlichen Staatengemeinschaft und gemeinsam mit den Golf-Monarchien – begann, die Ausbreitung islamistischer Strömungen mehr oder weniger verdeckt zu unterstützen.
- Verheerende Kriegspolitik in Syrien - Als der Westen sofort nach dem Fall von Gaddafi auch in Syrien auf die militärische Karte setzte, nahm die Katastrophe ihren Lauf. Der Syrien-Krieg war Brandbeschleuniger für die Erosion der demokratischen Ordnung in der Türkei und des innertürkischen Friedensprozesses. Zur westlichen Politik gehörten eindeutige Solidaritätserklärungen mit der Türkei, einschließlich der Stationierung deutscher Patrio-Abwehrraken, bezeichnet als Operation Solidarität! Dabei setze die Türkei von vornherein auf den gewaltsamen Sturz Assads durch den Aufbau eines islamistisch motivierten Widerstandes. Mit voller Unterstützung des Westens und teilweise in seinem Auftrag sowie im Auftrag der Golf-Monarchien wurden über die Türkei Waffen nach Syrien an Widerstandskräfte, auch an Islamisten, geliefert. Widerstand innerhalb der Türkei gegen diesen Kurs wurde gleichzeitig durch zunehmende Repression beantwortet. Dies ging bis zur Inhaftierung und Verurteilung zu jahrelangen Haftstrafen von Journalisten, die zuvor belegten, dass der türkische Geheimdienst direkt islamistische Kräfte belieferte. Die Türkei trat de facto in den Syrien-Krieg ein und wurde hierbei durch die westlichen Staaten unterstützt. Die westlichen Staaten schwiegen zur türkischen Unterstützung von Islamisten wie auch zur innertürkischen Repression. Dies schuf die Voraussetzungen für den seit längerem zu beobachtenden fortschreitenden Zusammenbruch demokratisch-menschenrechtlicher Strukturen in der Türkei.
- Türkisch-europäischer Menschenhandel - Infolge des Syrien-Krieges strömten Millionen Flüchtlinge in die Türkei. Nur ein kleiner Teil wurde in angemessenen Flüchtlingsunterkünften untergebracht. Die Mehrheit musste und muss selbst für ihr Überleben sorgen. Seit Ende 2011 begannen so immer mehr Frauen, Männer und Kinder aus Syrien die Straßen in türkischen Städte und besonders in Istanbul als Tagelöhner, Bettler und Obdachlose ohne jede Chance und Perspektive auf Rechtssicherheit und eine menschenwürdige Zukunft zu bevölkern. Der Verfasser dieses Beitrages hat das sich hier ausbreitende Elend und die Perspektivlosigkeit der Menschen in Istanbul direkt beobachten müssen. Die EU-Staaten reagierten auf diese verheerenden Zustände mit völliger Tatenlosigkeit bis eine größere Anzahl dieser Menschen begann, Zuflucht in den EU-Staaten zu suchen. Dies bildete schließlich den Anlass für den maßgeblich durch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel eingefädelten Türkei-Deal. Die Türkei wurde wider alle Tatsachen zum sicheren Drittland erklärt. Der Türkei wurden mehrere Milliarden Euro für die Rückaufnahme von Flüchtlingen sowie Visumserleichterungen für türkische Staatsbürger in Aussicht gestellt. Der Deal förderte Prestige und Entschlossenheit des türkischen Staatspräsidenten Erdogan, seinen bereits begonnenen Kurs der Revision der Demokratisierung und Aussöhnung mit den Kurden fortzusetzen und auf Widerstand mit zunehmender staatlicher Repression zu reagieren. Das zurecht als Merkel-Deal mit der Türkei bezeichnete Abkommen entspricht tatsächlich einem türkisch-europäischem Menschenhandel. Es konnte und wurde seitens Erdogan als unmittelbare Belohnung und Anreiz für seinen antidemokratischen und zunehmend repressiven Kurs verstanden. Damit wurden die Voraussetzungen für den nunmehr gescheiterten Putschversuch geschaffen. Massive Repression, Säuberungen, Racheakte und politische Verfolgung dürften mittelfristig und langfristig die Folge sein.
Eine von Anfang an fehlerhafte westliche Kriegspolitik gegenüber den Konflikte im Nahen Osten hat die Gesellschaften in Irak, Libyen und Syrien zusammenbrechen lassen und den Terror nach Europa geholt. Nunmehr tritt mit dem sich immer mehr zeigenden Zusammenbruch der demokratisch-menschenrechtlichen Ordnung in der Türkei ein weiterer Kollateralschaden ein. Arrogante und naive Kriegspolitik und egoistische Abschottungspolitik gegenüber den Flüchtlingen haben für diese Entwicklung den Weg gebahnt.
Wesentliche Fragen
Wird die westliche Politik, werden die Regierungen in der EU und werden Angela Merkel und die Bundesregierung in der Bundesrepublik Deutschland den Mut und die Ehrlichkeit aufbringen, ihre Fehlentscheidungen einzuräumen? Werden sie sichvon dem erzeugten Trugbildes eines sicheren Drittlandes Türkei zu verabschieden? Werden Sie den Flüchtlingsdeal mit der Türkei beerdigen?
Es ist zu befürchten, dass ihnen hierfür Courage und Standhaftigkeit fehlen. Sie werden wohl stattdessen tatenlos und weitgehend schweigend zusehen, wie die Menschenrechte in der Türkei immer mehr erodieren und womöglich zur vollständigen Implosion gelangen werden. Es ist zu befürchten, dass sie ihre Abschottungspolitik sogar verstärken werden, um den eigenen Bevölkerungen Sicherheit vorzugaukeln, während sie so in Wirklichkeit das Fundament einer demokratisch-menschenrechtsbezogenen Gesellschaft zerstören.
Kriegspolitik und Abschottung fördern Terror, auf den wiederum mit Kriegspolitik und Abschottung reagiert wird. Kriegspolitik und Terror fördern aber auch die Spaltung der Gesellschaft in den westlichen Staaten. Die Profiteure von Kriegspolitik und Abschottung sind auch der fremdenfeindliche Mob auf den Straßen und in den Parlamenten, der sich heimlich über jeden Terroranschlag freut, um den Boden für seine Botschaft der Fremdenfeindlichkeit, des Rassismus, der Abschottung und des Nationalismus noch fruchtbarer zu machen. Die guten Wahlergebnisse der AfD sind hierfür ein bundesrepublikanisches Beispiel.
Was kann getan werden?
Wer meint, die Eskalation in der Türkei wäre nur eine innerstaaliche Angelegenheit, irrt. Die Voraussetzungen der Eskalation wurden durch die westliche Politik mit geschaffen. Die Türkei ist vor der Haustür der EU, was dort geschieht, wird über die Türkei hinausgehende Folgen haben.
Auswege sind erkennbar, sie benötigen aber Wahrhaftigkeit und Mut:
Die westliche Staatengemeinschaft sollte sich zu ihren Fehlern bekennen und sie korrigieren. In Syrien, Libyen und Irak sollte sie ihre Eskalationspolitik sofort beenden und auf eine Kompromisslösung zwischen allen Beteiligten, außer den Dschihadisten, setzen. Ebenfalls muss der Flüchtlingsdeal mit der Türkei sofort beendet werden. Stattdessen sollten die wohlhabenden EU-Staaten die Flüchtlinge aufnehmen und damit einen Beitrag zur Wiedergutmachung der Folgen der eigenen Politik leisten sowie weltweit ein Vorbild liefern für die Korrektur von Fehlern und humanitäres Handeln. Selbstverständlich sind hier auch andere Staaten, wie die USA, gefragt.
Eine solche Kursumkehr würde es wiederum der westlichen Staatengemeinschaft ermöglichen, sich als ernsthafte Streiterin für Menschenrechte und Demokratie zu etablieren und ihren Ruf als Gemeinschaft von Egoisten zu überwinden. Auf dieser Basis könnte die westliche Staatengemeinschaft sodann auch mit allen verfügbaren friedlichen Mitteln auf die türkische Regierung einwirken, um in der Türkei einen Prozess der Aussöhnung und Demokratisierung anzustoßen, der durch die beschleunigte Integration der Türkei in die Europäische Gemeinschaft belohnt und abgesichert werden sollte.
Wer meint, dieser Weg sei unrealistisch, verkennt die Schlagkraft und Resonanz, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte entwickeln können, wenn sie tatsächlich praktiziert und nicht lediglich verbal geheuchelt werden.
Verfasser. Guido F. Gebauer
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Kommentar von Jörg Hager |
Ich bin der Meinung, dass all diese schrecklichen Ereignisse im Nahen Osten vom kapitalistischen Westen, den Industrieländern also, verursacht wurden, um letztlich beim 'Aufräumen' Geschäfte machen zu können und zugleich dort Zugriff auf die Ressourcen der Länder zu erhalten. Dies alles auf Kosten von Menschenleben und Vernichtung von Kulturgütern! Schamlos, diese Interessenspolitik, mit der uns westlichen 'unbedarften' Bürgern auch noch durch Mitleidsbekundungen und fadenscheinigen Ohnmachtserklärungen humanes Verhalten vorgegaukelt wird!
Kommentar von Oya Yilmaz |
Wir die deutsch/türkisch stämmige Menschen, sind machtlos und hilflos und gucken zu, wie die Türkei zu Abgrund geht, islamisiert wird. Was können wir denn tun?
Kommentar von Don Quijote |
Ich teile die Beschreibungen und Erklärungen des Verfassers. Da der Westen jedoch mit dem Spiel begann, Menschenrechte als Instrument nationaler Interessen zu benutzen und die türkische Politik dies willig aufnahm, fragt sich, welches Motiv die Erdogan-Türkei und die Nato-Staaten haben sollten, um Staatsinteressen dem Ziel von Menschenrechtsgewährung unterzuordnen. Wird der Schaden sie klüger werden lassen? Schaden macht indes nur dann klüger, wenn er als solcher und in seinen Ursachen erkannt und verstanden wird. Doch davon ist man in diesem Kontext ebenso weit entfernt wie in jenem Verhältnis zu Problemen, die man nicht verstehen will, nämlich dem Verhältnis des Kampfes. Kampf gegen Klimawandel, Hunger, Terror zeigt an, dass man nicht verstanden hat, warum es zu diesen Erscheinungen kam.