Irak, Syrien, Libyen: Wenn Fehler zu Verbrechen werden
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Immer mehr Städte und Ortschaften werden im Irak durch die radikale Al Quaida Abspaltung Islamic State of Iraq and the Levant (mit Levent ist Syrien gemeint) eingenommen. Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht. Wer nicht flieht, für den gelten die neuen Bedingungen, die soeben durch die Dschihadisten erlassen wurden. Demnach sollten Frauen soweit als möglich nur noch zu Hause bleiben. Sollte ein Aufenthalt außer Hauses unumgänglich sein, ist eine Ganzkörperbedeckung erforderlich. Erlaubt ist nur noch die Religionsauslegung der Extremisten. Zu dieser muss sich jeder bekennen, der am Leben bleiben möchte.
Der Islamic State of Iraq and the Levant (ISIS) ist nicht nur im Irak aktiv, sondern auch in Syrien, wo er sich im Rahmen des militärischen Kampfes gegen das Assad eine bedeutsame Position hat sichern können. Bestialische Brutalitäten gingen allerdings der zunächst sich eher freundlich duldend und partiell kooperierend verhaltenden bewaffneten syrischen Opposition dann doch zu weit. Im Ergebnis spielen sich in Syrien heute nicht nur Kämpfe zwischen dem Assad-Regime und seinen Gegnern ab, sondern auch innerhalb seiner Gegner.
Groteskerweise haben nunmehr in Syrien sogar die durch den Westen unterstützte Syrian Revolutionary Front (SRF) unter Jamal Maarouf und die offizielle Al Quaida Formation al-Nusra-Front ein Bündnis geschlossen und kämpfen gemeinsam gegen Assad und die ISIS. Derweil betont der Führer der SRF im Interview mit dem Independent, dass er Al Quaida als ein Problem des Westens betrachte, Al Quaida nicht bekämpfen und mit ihr weiterhin kooperieren werde.
In Syrien setzt nun also de facto der Westen in Form der SRF auf die mit dieser kooperierende offizielle Repräsentantin der Al Quaida im Land und damit auf eine Organisation, die zuvor der USA und dem gesamten Westen das September 2011 Trauma zufügte. In was für einer verzweifelten Position muss sich die westliche Politik in Syrien sehen, dass sie, um die Schlimmsten der Schlimmen zu verhindern, jetzt sogar bereit ist, den eigenen Todfeind zu umarmen?
Die Folgen für die Menschen im Irak und in Syrien bleiben jedoch nicht nur abstrakt. Es ist keine Realsatire, die sich hier abspielt, sondern es hat Konsequenzen in Form von noch mehr Toten, noch mehr Verletzen und noch mehr Vertriebenen.
Waffen schwemmen derweil auch aus Libyen in die Kriegs- und Krisengebiete. Sie erreichen Syrien, Irak und Mali, aber gelangen offenbar sogar in die Hände der barbarischen Boko Haram Kämpfer in Nigeria, die soeben hunderte Mädchen entführten.
Libyen selbst hat den syrischen Prozess bereits hinter sich (siehe →hier eine umfassendere und aktualisierte Analyse). Im Namen der Menschenrechte zwangen westliche Interventionisten das Gaddafi-Regime mit Bombengewalt und Bodentruppen aus islamistischen und nicht-islamistischen Rebellen in die Knie. Verwandelt wurde dabei ein fraglos diktatorisch und mit vielfältigen schweren Menschenrechtsverletzungen regiertes Land in eine komplette Anarchie der Rechtelosigkeit.
Grundlegende Lebens- und Sicherheitsrechte sind in Libyen nicht mehr gültig. Die mittlerweile auch von Human Rights Watch (HRW) als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnete ethnische Säuberung der traditionell von schwarzen Libyern bewohnten Stadt Tawergha von ihren Bewohnern dauert ebenso an wie Masseninhaftierungen, Folterungen und extralegale Exekutionen. An vielen Orten Libyen ist bereits ein Einkaufsgang lebensgefährlich. Immer mehr Menschen verlassen immer seltener ihre Häuser, aber nicht einmal dies kann sie ausreichend schützen. Angst und Sorge um Familienangehörige und Freunde sind allgegenwärtig im heutigen Libyen.
Der aktuelle Jahresbericht von Human Rights Watch zeichnet das Bild einer wahren Menschenrechtskatastrophe in Libyen, wobei HRW allerdings seine eigene Rolle bei der Beförderung von militärischen Interventionen zum Schutze der Menschenrechten, die letztlich mehr Menschenrechte verletzen als schützen, nicht kritisch hinterfragt (siehe hier).
Auf Seite der bundesrepublikanischen Politik kann auf die grüne Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck als Beispiel für einen militärischen Interventionismus verwiesen werden, der die Menschenrechte gefährdet, die er schützen möchte. So wurde der Militäreinsatz der NATO in Libyen durch Marieluise Beck damals begeistert begrüß. Sie meinte gar, in diesem die notwendige Lehre aus dem Holocaust erkennen zu können.
Wortwörtlich schrieb Marieluise Beck:
" Ich bin erleichtert, dass die Weltgemeinschaft aus der Geschichte von Ruanda und Srebrenica gelernt hat und ihre Schutzverantwortung im Falle von Verbrechen gegen die Menschlichkeit wahrnimmt. Selbst Länder wie Russland und China stellten sich dem nicht mehr entgegen. Damit folgen die Vereinten Nationen ihrem eigentlichen Gründungskonsens, nämlich der Schutzverantwortung für bedrohte Völker als Lehren des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. "
Marieluise Beck stand mit ihrer Position des kriegerischen Regime-Wandels damals keineswegs allein und sie hat bis heute nichts von ihrer Position zurück genommen. Während die von ihr vertretene und vehement eingeforderte Politik in Libyen verbrannte Erde hinterlassen hat, wandte sie selbst sich derweil mit Syrien, Ägypten und der Ukraine anderen Ländern zu.
Es geht nicht um die Person Marieluise Beck. An ihrem Beispiel verdeutlichen lässt sich aber die Entstehung einer neuen, ursprünglich sich links-alternativ definierenden Politikerklasse, die die Ideale der Friedensbewegung hinter sich gelassen hat und heute mit gleicher moralischer Durchdringung den Einsatz von kriegerischer Gewalt zur Lösung politischer Konflikte einfordert.
Durchgesetzt wird dabei eine Politik, die im Namen der Menschenrechte zur Vernichtung von Menschenleben führt. Durchgehalten wird dies durch eine einseitige Optik, die die Komplexität von Konflikt- und Krisensituationen ausblendet. Es wird sich ohne „Wenn und Aber“ auf einer Seite positioniert und diese Positionierung wird selbst dann beibehalten, wenn die unterstützte Seite Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen oder gar Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht, so wie es in Tawergha geschehen ist und nach wie vor geschieht.
Bezüglich Irak, Libyen und Syrien berichten auch die westlichen Medien, die mehrheitlich den Kurs der militärischen Intervention mitgetragen haben, zunehmend kritisch. Es wird von schweren Fehlern gesprochen, jedoch wird der militärische interventionistische Ansatz nicht ausreichend als Ursache dieser Fehlentwicklungen gewürdigt.
Fehler werden zu Verbrechen, wenn sie vorhersehbar waren und das Leben von Menschen vernichten. Aus einer menschenrechtsbezogenen Perspektive, die sich am Leben der konkret betroffenen Menschen orientiert, hat die westliche Politik gegenüber zahlreichen Ländern diese Schwelle längst überschritten. Umso schandvoller ist es, dass wir gleichzeitig diejenigen Menschen auf dem Meer ertrinken oder in Elend und Tod abschieben lassen, die eben wegen dieser unseren Politik keine anderen Optionen mehr für sich sahen, als ihre Heimatländer zu verlassen; bar allen Besitzes und allein, um zu überleben.
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Kommentar von avellaneda |
"Wo sie eine Verwüstung stiften, nennen sie es Frieden " (Ubi solitudinem faciunt, pacem appellant, Tacitus)" - wurde während des Vietnamkrieges gegen die US-Regierung wirksam verbreitet und gilt erneut derzeit für die USA und ihre Vasallen.
Hat die NSA nicht gewusst, was im Irak geschieht? Haben die USA nicht anders handeln können? Oder wollen sie nicht anders handeln, weil sie, um die nsa-Aktivitäten zu steigern, bedrohliche Feinde benötigen?
Ich stimme dem Beitrag zu, bitte aber künftig um die Vermeidung von zwei Adjektiven.
bestialisch: zu bestia, wildes Tier. Kein wildes Tier weist Eigenschaften der Niedrigkeit auf wie der Mensch.
barbarisch: waren die Nicht-Griechen, die kein Griechisch verstanden und deren eigene Sprache sich anhörte wie "barbarbar". Das Adjektiv gilt heute stets für die anderen. Wir sind zivilisiert, die anderen nicht, sie sind barbarisch.
Beide Adjektive bitte aus dem eigenen Sprachgebrauch streichen. Danke!