Inge Hannemann: Eine Frau gegen die Bundesagentur für Arbeit und an der Seite der Schwachen

In Hamburg weigert sich die Arbeitsvermittlerin Inge Hannemann Sanktionen gegen Hartz-IV Empfänger zu verhängen, wenn diese an sie gestellten Anforderungen der Arbeitsagentur nicht nachkommen. Vorgesehen sind Mittelkürzungen bis hin zur kompletten Streichung sämtlicher Unterstützungsleistungen, beispielsweise wenn mehrfach Termine nicht wahrgenommen werden.

Soeben hat der SPIEGEL dem bemerkenswerten Verhalten von Inge Hannemann einen eigenen Artikel gewidmet. Bemerkenswert ist ihr Verhalten, weil es aus der Schreibtischroutine von Menschen herausfällt, die sich im Arbeits- und Behördenleben nur allzu oft als Ausführende von Anordnungen definieren und dadurch gleichzeitig die eigene Verantwortung für die Folgen dessen, was sie vollziehen, ausblenden.

In Diktaturen und Unrechtsregimen nennt man diejenigen Männer und Frauen Schreibtischtäter, die tun, was ihnen gesagt wird, selbst dann, wenn die Konsequenzen für andere schwerwiegend sind.

Hierzulande sprechen wir eher von Bürokraten, die - formaljuristisch im Recht - mit einem Federstrich am Schreibtisch die Lebensträume von Menschen zerstören. Etwa die Mitarbeiter der Ausländerbehörden, die Menschen sogar in Tod und Gefahren abschieben lassen, aber eben auch Mitarbeiter der Jobcenter, die Menschen alle Finanzmittel streichen.

Inge Hannemann ist keine herzlose Bürokratin. Ebenso wenig ist sie mutlos. Sie versteht sich nicht als Rädchen in einem nicht zu stoppenden Räderwerk, für dessen Steuerung sie sich nicht zuständig führt. So wird sie für all diejenigen, die eigentlich lieber Roboter als Menschen beschäftigen würden, zum Ärgernis, während sie denjenigen Härte und Not erspart, deren Mittelkürzungen oder –streichungen sie revidiert oder sie von ihnen von vornherein verschont.

Inge Hannemann ist in Hamburg der Sand im Getriebe einer Sanktionierungspraxis, die sich als „fördern und fordern“ versteht, aber oftmals durch die Betroffenen als Überforderung erlebt wird. Aktuell soll dieser Sand aus dem Getriebe entfernt werden. Inge Hannemann ist ausgesperrt. Derweil will die Bundesagentur für Arbeit die Kontrollpraktiken der Jobcenter verschärfen, indem sie Ärzten die Kompetenz für Krankschreibungen absprechen und Betroffene durch den medinizischen Dienst sogar zu Hause kontrollieren lassen möchte.

Doch während wir allesamt verwundert auf Inge Hannemann schauen, stellt sich die Frage, ob wir nicht weitaus berechtigter mit Verwunderung auf diejenigen Menschen schauen sollten, die tagtäglich in den Jobcentern als Vollstrecker von Sanktionen auftreten?

Die Bedeutung von Mittel-Streichung

Sachlage ist, dass der Mensch materieller Mittel zum Überleben bedarf. Alle Menschen müssen essen, trinken, benötigen Kleidung, brauchen Schlaf. Dies betrifft Menschen, die Hartz-IV beziehen, ebenso wie es Menschen betrifft, die kein Hartz-IV beziehen. Es betrifft Hartz-IV Empfänger, die nicht sanktioniert werden, aber es betrifft auch Hartz-IV Empfänger, die sanktioniert werden.

Hartz-IV stellt das Existenzminimum dar. Der Regelsatz wird berechnet als Basis, die gerade noch ausreichen soll, um ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen. Ob dies der Fall ist, darüber mag gestritten werden. 

Bei Berücksichtigung dieser Zusammenhänge bedeutet die Mittelstreichung als Sanktion in logischer Konsequenz die Wegnahme des Lebensminimums und damit die Absprache des Rechtes auf ein menschenwürdiges Leben. Denn wenn wir einem Menschen das Existenzminimum nehmen, dann erkennen wir ihn nicht mehr als vollwertigen Menschen mit einem Recht auf ein menschenwürdiges Leben an.

Die Sanktionierungspraktiken der Jobcenter sind nicht nur ein abstrakter Verstoß gegen die Menschenrechte, sondern sie können im Einzelfall tödlich sein. Wenn Menschen, beispielsweise aufgrund seelischer Erkrankungen, nicht mehr über die Möglichkeiten verfügen, den Anforderungen der Jobcenter nachzukommen oder sich Hilfe zu holen, sind sie dem Hungertod preisgegeben oder sie mögen sich zum letzten Ausweg des Suizides gezwungen sehen.

Beides ist bereits mehrfach geschehen. Die Praxis der durch die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder eingeführten Arbeitsmarktreformen ist auch mit Toten gepflastert, mit früher lebenden Menschen, die keine Kraft mehr hatten, um sich zu wehren oder berechtigte Ansprüche einzufordern und so in ihren Wohnungen verhungerten, mit Menschen, die die direkte Selbsttötung als subjektiv alternativlos erlebten.

Die Streichung aller Mittel eines Hartz-IV Empfängers bedeutet sachlogisch, der betreffenden Person - es sei denn, sie hat die Kraft, Fähigkeit und Bereitschaft zu korrigierendem Wohlverhalten oder verfügt über andere Ressourcen - das Existenzminimum und damit ihr auch in letzter Konsequenz gegebenenfalls das Leben zu nehmen.

Wie weit ist es mit unserer Gesellschaft gekommen, welche Vorstellungen haben von uns Besitz ergriffen, dass wir uns dennoch nicht über diejenigen wundern, die dies in Kauf nehmen, sondern über eine Frau, die nicht bereit ist, Menschen das zu nehmen, was sie zum Überleben brauchen?  

Übrigens betreibt Inge Hannemann, die nunmehr selbst Opfer einer Sanktionspraxis zu werden droht, ein eigenes Blog, welches den Leserinnen und Lesern  ans Herz gelegt sei!