Wie die FAZ sexuelle Übergriffe kleinredet
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In einem Artikel behauptet die FAZ, dass jeder Vergleich der Übergriffe von Köln mit dem Oktoberfest unzulässig sei und sich auf falsche Zahlen gründe. Wer auf das Oktoberfest hinweise, der rede die sexuelle Gewalt von Köln klein. In Wirklichkeit reden aber nicht diejenigen sexuelle Gewalt klein, die auf deren Allgegenwärtigkeit hinweisen, sondern diejenigen, die sexuelle Gewalt als Spezialproblem von Migranten darstellen wollen. Hierzu gehört nun leider auch die FAZ.
Die FAZ setzt sich bezüglich des Oktoberfest (anders als bezüglich der Kölner Übergriffe) nur mit offiziellen Anzeigezahlen zu Vergewaltigungen auseinander, wobei sie nur die direkt auf dem Gelände verübten Vergewaltigungen berücksichtigt, nicht aber Vergewaltigungen, die auf dem Hin- oder Rückweg vom Oktoberfest stattfanden. Die FAZ lässt demgegenüber bezüglich des Oktoberfestes sexuelle Nötigungen, vor allem aber auch die fraglos viel häufigeren sexuellen Beleidigungen (Belästigungen, wie Grabschen) sowie alle anderen Delikte, wie Taschendiebstählen, konsequent aus. All dies lässt sie dann aber beim Vergleich mit Köln drin, denn in den Anzeigen bezüglich der Kölner Vorgänge sind diese unterschiedlichen Deliktformen einbezogen. Derzeit ist nach den vorliegenden Informationen von einer oder zwei Vergewaltigungen im Sinne eines Tatverdachts im Kontext der Kölner Straftaten auszugehen, wobei bisher mangels Bereitstellung von Informationen unklar ist, ob diese direkt mit den Übergriffen auf dem Hauptbahnhof zusammenhängen und dort stattfanden oder nicht. Allein diese Zahl der angezeigten Vergewaltigungen hätte die FAZ erwähnen dürfen, wo sie sich doch auch für das Oktoberfest auf angezeigte Vergewaltigungen beschränkte.
Leider unternimmt die FAZ keinerlei Anstrengung, endlich einmal zu recherchieren, wieviele Anzeigen zu welchen Deliktgruppen nun tatsächlich vorliegen, so dass die wesentlichen Informationen weiterhin im Dunkeln bleiben.
Zudem vergleicht die FAZ bezüglich der Anzeigenanzahl noch aus einem anderen Grund Äpfel mit Birnen:
Typischerweise ist die Anzeigewahrscheinlichkeit bereits bei schweren Sexualdelikten, wie Vergewaltigungen, eher gering, wobei wissenschaftliche Schätzungen zwischen 10% bis 60% schwanken. Grundsätzlich nimmt die Anzeigewahrscheinlichkeit mit der Deliktschwere aber zu, so dass die Anzeigewahrscheinlichkeit für eine Vergewaltigung bei weitem höher liegt als die Anzeigewahrscheinlichkeit für eine sexuelle Beleidigung (Belästigung). Die überwältigende Mehrheit sexueller Beleidigungen (Belästigungen) wird tatsächlich niemals zur Anzeige gebracht.
Im Fall der Kölner Ereignisse erfolgte allerdings über alle Medien bis hin zur obersten politischen Ebene in diesem Land die Aufforderung, die Delikte anzuzeigen. Dies hat zu einer sprunghaften Zunahme der ursprünglichen Anzeigen und offenbar auch zu einer Veränderung ihrer inhaltlichen Ausrichtung geführt. Es wäre in der Tat interessant, wie hoch die Anzeigenzahl wäre, wenn bei anderen Ereignissen, wie dem Oktoberfest, ähnlich eindringlich über sexuelle Gewalt berichtet werden und zur Anzeigen aufgefordert werden würde.
Kein Zweifel dürfte allerdings daran bestehen, dass die überwältigende Mehrheit von Grabschereien und sexuellen Belästigungen bei Veranstaltungen, wie dem Oktoberfest, niemals zur Anzeige gebracht wird. Die Zahl von 156 allein durch eine private Opfer-Initiative 2013 betreuten Betroffenen legt nahe, dass in der Tat von sehr hohen Zahlen ausgegangen werden muss. Denn auch hier gilt, dass sich die allerwenigsten Frauen oder Männer, die angegrabscht werden, an eine Opferhilfe wenden werden. Von einer enormen Dunkelziffer ist auszugehen, auch wenn die Schwelle zur Anzeige sicherlich noch höher liegt.
Um die wahrscheinliche Anzahl sexueller Übergrifflichkeiten auf dem Oktoberfest zu verdeutlichen, sei auf die Aussage der Informatikerin und Soziologin Anna-Katharina Meßmer hingewiesen: "Ich gehe, seit ich denken kann auf die Wiesn, und wurde immer begrapscht". Gibt es einen vernünftigen Grund anzunehmen, dass es einer großen Mehrheit der Millionen Oktoberfest-Besucherinnen ganz anders ergehen sollte als Anna-Katharina Meßmer? Wenn nein, wäre wohl für das Oktoberfest von einer Anzahl von einzelnen Übergriffen im Hunderttausender- bis Millionen-Bereich auszugehen.
Die FAZ handelt in ihrem Bericht nach dem Motto "Augen zu und nichts ist passiert" und redet damit sexuelle Übergriffigkeit klein. Weil es bisher kein Interesse gab, beim Oktoberfest wissenschaftlich fundierte Statistiken über sexuelle Übergriffe zu erheben, haben diese angeblich nur in minimaler Anzahl stattgefunden. Weil sich Betroffene von Angrabschereien und sexueller Belästigung nahezu niemals an die Polizei oder Opferberatungs-Stellen werden, gibt es auch keine Angrabschereien und sexuelle Belästigungen. Erkennbar wird die konservative Absicht, sexuelle Übergriffigkeit als gesamtgesellschaftliches Problem und Alltag zahlloser Betroffener zu leugnen.
Anstatt die gesamtgesellschaftliche sexuelle Gewalt kleinzureden, sollten und könnten sich Medien, wie die FAZ, damit auseinandersetzen, wie eine bessere Präventionsarbeit gewährleistet werden kann. Dies ist ein komplexes Feld. Als unwirksam bekannt sind aber Strafverschärfungen, die zu keiner Reduktion sexueller Gewalt führen. Dass sich dennoch die Diskussion derzeit hierauf konzentriert, zeigt, dass es um Populismus und nicht um ein ernsthaftes Interesse an der Prävention sexueller Übergriffigkeit und Gewalt geht. Für eine langfristig wirksame Präventionsarbeit kommt der Sexualpädagogik an den Schulen große Bedeutsamkeit zu. Selbstverständlich sollten Sexualpädagogik dabei ebenfalls zum Standard von Integrationskursen und anderen Bildungsmaßnahmen, die Migranten betreffen, gehören. Ebenfalls könnten für den Migration-bereich spezifisch auch Menschen mit Migrationshintergrund ausgebildet werden, um gegen sexuelle Übergriffigkeit im Sinne bürgerlichen Engagements einzuschreiten. Gerade konservative Kreise verweigern sich aber der Ausweitung der Sexualpädagogik an den Schulen und in anderen Bildungseinrichtungen und leisten damit einen Beitrag dazu, dass Potentiale zur Minderung sexueller Gewalt nicht genutzt werden können.
Die aktuelle Diskussion blendet nach wie vor wesentliche Sachverhalte aus, wie dass ungefähr jede siebte Frau in ihrem Leben sexuelle Gewalt erleidet, wobei aber auch sexuelle Gewalt gegen Männer sehr viel häufiger ist, als in Anbetracht des medialen und politischen Desinteresses an dieser Thematik vermutet werden könnte. Stattdessen wird das Ausmaß sexueller Übergriffigkeit und Grenzüberschreitung geleugnet, indem es als ein Problem von Migranten und nicht der gesamten Gesellschaft dargestellt wird. Auf diesen Zug ist nun auch die FAZ aufgesprungen und erweist damit den Opfern von sexueller Gewalt einen Bärendienst.
Bezüglich des derzeitigen Umganges von Ermittlungsbehörden, Medien und Politik mit den Straftaten und Vorfällen von Köln halten wir an der Aussage aus unserem vorherigen Artikel fest, auch wenn der Verweis auf rechtsstaatliche Prinzipien, wie das Verbot von Vorverurteilung, die Gültigkeit der Unschuldsvermutung und die Unzulässigkeit von Sippenhaft, aktuell in maßgeblichen Kreisen nicht populär zu sein scheinen:
"Bisher wurden der Öffentlichkeit keine Ermittlungsergebnisse zur Verfügung gestellt, die den qualitativen Ansprüchen an den rechtsstaatlichen Umgang mit Kriminalität und Straftätern entsprächen. Strafverfahren gründen sich nicht auf Gerüchte und anonym kolportierte Denuntiationen, sondern auf Beweise. Sehr oft ergeben sich dabei im Verlauf von Ermittlungsverfahren und gerichtlichen Verfahren neue Fakten und veränderte Bewertungen. Aus gutem Grund gelten das Verbot der Vorverurteilung, die Unschuldsvermutung und der Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren. In einem Rechtsstaat gibt es zudem keine Sippenhaft. Nach rechtsstaatlichen Prinzipien wird niemand zum Verbrecher, nur weil er sich an einem Ort aufhielt, wo andere Verbrechen begingen. Ebenso wenig interessiert nach rechtsstaatlichen Prinzipien die Hautfarbe oder die Herkunft. Leider ist es erforderlich, an diese grundlegenden Prinzipien des Rechtsstaates zu erinnern."
Verfasser: Guido F. Gebauer
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Kommentar von Don Alphonso |
Wenn Sie einmal zu "Sichere Wiesn" recherchiert hätten, wüssten Sie, dass dort alle Frauen aufgenommen werden, die Probleme haben. Zuerst einmal sind das jene, die zu viel getrunken haben, ihre Gruppen nicht mehr finden, ihre Handtaschen und das Geld verloren haben und als Touristinnen orientierungslos sind. Denen wird dann geholfen, sicher nach Hause zu kommen, Es ist ein Gewaltpräventionsprojekt, um as Ausnutzen solcher Situationen zu verhindern.
Die offiziellen Zahlen gibt es bei der Polizei. Da habe ich auch nachgefragt, ie Polizei bestreitet vehement die überzogenen Zahlen - genannt haben sie andere, ich setze sie nur in Relation zu Köln.
Kommentar von Edward de Vere |
Hinzu kommt: Die von der FAZ für die Kalkulation der Grundmenge in Köln verwendete Zahl von 1000 Personen ist falsch gewählt. Diese bezieht sich ja nur auf die Teilmenge jener Personen, die sich zum Zeitpunkt der Vorfälle direkt auf dem Vorplatz befanden. Die Menschenmenge beim Bahnhof insgesamt (auch auf der Seite des Breslauer Platzes usw.) bzw. die Zahl der Personen, die irgendwann am Laufe des Abends - vorher- oder nachher - dort waren, ist natürlich um vieles (um ein Vielfaches?) größer. Beim Oktoberfest rechnet die FAZ nämlich auch alle Personen zusammen, die sich irgendwann im Laufe des mehrtägigen Festes dort, und sei es nur kurz, als Gäste einfanden, und nimmt nicht nur die Teilzahl jene Personen, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt alle zugleich in einem einzelnen Bierzelt aufhielten.
Und der zweite Punkt: Warum pickt sich die FAZ isoliert nur jene kleine Teilmenge (Vorplatz zu einer best. Uhrzeit) eines Teils (Kölner Bahnhofsgegend) der Massenfeiern, die überall in ganz Deutschland zu Silvester stattfanden, heraus? Nämlich ausgerechnet nur jene winzige Teilmenge, wo es zu den Vorfällen gekommen ist - alle anderen fallen deshalb aus der Statistik, weil dort nichts vorgefallen war? Aussagekräftiger wäre es hingegen, die Silvester-Massenfeiern, die in allen Städten in ganz Deutschland (und zwar mit einigen Millionen Teilnehmern) gleichzeitig stattfanden, mit der Zahl der in ihrem Rahmen verzeichneten sexuellen Straftaten in Bezug zu setzen. Schließlich haben wir es auf der einen Seite mit einer Fülle von gleichzeitigen Massenfeiern in ganz Deutschland - in Hunderten Städten - zu tun. Und das Oktoberfest auf der anderen ist eine einzelne Massenveranstaltung in einer einzigen Stadt.
Von der unredlichen und manipulativen FAZ-Rechnung bleibt allein wegen dieser zwei Punkte am Ende nichts übrig. Ein journalistsiches Trauerspiel.
Kommentar von Team Gleichklang |
@ Don Alphonso
Sie berichten Anzeigen zu Vergewaltigungen und vergleichen diese dann NICHT mit Vergewaltigungsanzeigen in Köln, sondern mit ALLEN Anzeigen. Außerdem verpassen Sie die Argumentation des Artikels, dass sexuelle Belästigungen auf Massenveranstaltungen nahezu niemals angezeigt werden. Wenn Frauen berichten, dass sie bei jedem Besuch des Oktoberfest angegrabscht wurden, dann ist davon auszugehen, dass dies stimmt. Dann gibt es eine ENORME Anzahl an Übergriffen, genau dies bestreiten sie aber. Da hilft ihnen keine Polizeistatistik und genau dies haben wir begründet. Als Ergänzung: Laut Merkur bezeichnete die Polizei in Bayern einen Mann auf dem Oktoberfest, der einer Frau "spaßig" unter den Rock greifen wollte, als "kecken Burschen". Der Übergriff ging nicht in die Polizeistatistik ein, sondern die Abwehrreaktion der Frau als Körperverletzung - genau das ist der Punkt - sexuelle Belästigungen gelten als harmlos und akzeptabel, wenn sie von weißen Männern verübt werden. Oder denken Sie vielleicht, dass Migranten in Köln, die einer Frau unter den Rock griffen, demnächst als "kecke Burschen "bezeichnet werden werden? Mit ihrem Artikel verharmlosen Sie sexuelle Gewalt, leugnen die Allgegenwärtigkeit sexueller Übergrifflichkeit und versuchen die Schuld auf Migranten als Sündenböcke abzuwälzen. Mit den Zahlen von sichere Wiesn haben Sie allerdings Recht, dass diese nicht ausschließlich sexuelle Übergriffe betreffen. Sichere Wiesn kümmert sich in erster Linie um Opfer sexueller Übergriffe, aber auch um Diebstähle und andere Vorfälle. Dies ändert die Sachlage allerdings nicht erheblich und ändert nichts daran, dass Sie nicht Vergewaltigungsanzeigen auf dem Oktoberfest mit allen Anzeigen in Köln in Verbindung bringen dürfen. Und wenn es um Recherche geht, vielleicht schaffen Sie es, herauszufinden, welche einzelnen Deliktvorwürfe mit welchen Zahlen im Raum stehen. Uns ist das bisher nicht gelungen. Stattdessen diskutieren wir alle, ohne die entscheidenden Fakten zu kennen.