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Piloten mit Depressionen: Stigmatisierung ist kontraproduktiv

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Der Absturz des Germanwing-Flugzeuges in Frankreich, offenbar ein erweiterter Suizid, der so zum Massenmord wurde, lässt Rufe nach besserer Kontrolle und Auswahl der Piloten laut werden. Der verantwortliche Co-Pilot habe möglicherweise an einer Depression oder einer anderen psychischen Störung gelitten und sei so nicht flugtauglich gewesen. Mindestens sei eine Depression in der Vorgeschichte bekannt gewesen. Tatsächlich scheinen für den Tag des Todesfluges Krankschreibungen existiert zu haben, die der Co-Pilot seiner Arbeitgeberin aber offenbar niemals vorlegte. Auch scheint sich der Co-Pilot in psychiatrischer Behandlung befunden zu haben.

 

Hätte ein Mann mit einer Depression in der Vorgeschichte überhaupt Pilot werden dürfen? Liegt bereits mit der Einstellung dieses Piloten bei Germanwings ein Versagen vor? Wurden Gefahrensignale übersehen? Werden umfangreichere psychologische Untersuchungen und Testungen benötigt, um psychisch auffällige Menschen künftig besser identifizieren und von der Pilotenlaufbahn ausschließen zu können? Solche Fragen werden bereits gestellt und ihre Intensität dürfte weiter zunehmen, wenn sich eine psychische Erkrankung bei dem verantwortlichen Co-Piloten bestätigen sollte.

 

So nahe es auch liegt, solche Frage zu stellen, so ist die Fragerichtung dennoch falsch. Denn sie geht von der unbewiesenen Prämisse aus, dass psychische Erkrankungen im allgemeinen und Depressionen im speziellen zu derartigen Verhaltensweisen und Straftaten führen. In Wirklichkeit handelt es sich bei durch Piloten herbeigeführte Flugzeugabstürze im Sinne von erweiterten Suiziden um eine Rarität und der Zusammenhang zu depressiven oder anderen psychischen Erkrankungen ist nicht belegt.

 

Richtig ist, dass bei Menschen mit Depressionen das Suizidrisiko erhöht ist, auch wenn nur eine Minderheit der Betroffenen, vor allem wenn eine Behandlung erfolgt, tatsächlich Suizid begeht. Die Anzahl derjenigen Personen, die aber nicht nur sich selbst suizidieren, sondern andere mit in den Tod nehmen, ist verschwindend gering. Fast immer beziehen sich solche seltenen Fälle auf unmittelbare Angehörige, wie Kinder oder Ehepartner,. Erweiterte Suizide von Piloten durch die Herbeiführung des Absturzes mit Passagieren und Crew besetzter Flugzeuge sind demgegenüber eine extreme Seltenheit. So bitter solche Vorfälle auch sind, derartig seltene Ereignisse lassen sich kaum vorhersehen.

 

Studien liegen vor, die einen möglichen Zusammenhang zwischen Unfällen in der Luftfahrt und der Einnahme von Antidepressiva untersuchten. Die Einnahme von Antidepressiva kann dabei als ein Indikator für das Vorliegen depressiver Erkrankungen gewertet werden. Wissenschaftlich ließ sich kein Zusammenhang zwischen der Einnahme von Antidepressiva und Unfällen belegen. Auch im Vorfeld der Einnahme von Antidepressiva war die Unfallrate von Piloten nicht erhöht. Es gibt keine solche Studien zu erweiterten Suiziden durch Flugzeugabstürze, da diese zu selten sind, als dass ein Zusammenhang gefunden werden könnte. Sicher ist aber, dass die überwältigende Mehrzahl, ja statistisch sogar nahezu alle Piloten mit Depressionen, keinen erweiterten Suizid durch einen herbeigeführten Flugzeugabsturz und damit auch keinen Massenmord verüben.

 

Selbst wenn es keinen Beleg dafür gibt, dass Depressionen zu Flugzeugabstürzen führen, wäre es nicht dennoch sinnvoll, als Vorsichtsmaßahme alle Menschen mit psychischen Labilitäten und depressiven Symptomatiken von der Pilotenlaufbahn auszuschließen? Rechtfertigt das höhere Gut der Sicherheit von Passagieren und Crew nicht den lebenslangen Ausschluss solcher Personen vom Pilotenberuf, selbst wenn sie aller Wahrscheinlichkeit niemals einen Flugzeugabsturz herbeiführen würden?

 

Fraglos liegt bei Vorliegen einer mittelgradigen oder schweren depressiven Episode eine akute Arbeitsunfähigkeit vor. Kein Pilot sollte während einer akuten depressiven Episode fliegen, ebenso wenig wie andere Berufstätige in dieser Zeit arbeitstätig sein sollten. Aber bei Menschen mit depressiven Episoden in der Vorgeschichte bleibt das Risiko für eine erneute depressive Entwicklung erhöht. Macht es von daher Sinn, Menschen mit depressiven Erkrankungen in der Vorgeschichte von vornherein von der Pilotenlaufbahn auszunehmen und außerdem Berufstätigkeit sofort zu beenden, wenn sich erst später während ihrer beruflichen Laufbahn erstmals eine depressive Symptomatik zeigen sollte?

 

Was würde aber für andere Bereiche folgen, wenn wir diese oder vergleichbare Fragen bejahten? Was steht es mit dem Schutz von Autofahrern vor Geisterfahrern? Wie können Patienten vor möglicherweise depressiven Operateuren geschützt werden? Sollten vormals depressive Lehrer dennoch Schüler unterrichten dürfen?

 

Kurzum, müssten wir nach dieser Logik in allen Bereichen, wo Risiken bestehen, insofern nahezu überall, Menschen mit depressiven Erkrankungen oder anderen psychischen Störungen in der Vorgeschichte ausschließen und ihre Laufbahn beenden, wenn eine psychische Erkrankung auftreten sollte. Wir müssten demnach also für ein allgemeines Berufsverbot für Menschen mit Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen plädieren. Was würde ein solches Verbot aber bedeuten, wenn wir berücksichtigen, dass 16-20% aller Menschen in ihrem Leben mindestens eine krankheitswertige Depression entwickeln, wobei die Lebenslangprävalenz für jede Form von psychischer Störung sogar weitaus höher liegt und 37% aller Männer und 49% aller Frauen betrifft? Sollen alle diese Menschen von Berufstätigkeiten ausgeschlossen werden und wie ließen sich trotzdem bestehenden Risiken außerhalb des Berufes vermeiden?

 

Selbst wenn die Gesellschaft einen solchen Schritt tun würde und einen Großteil ihrer Mitglieder von Berufstätigkeiten und auch von mit Risiken verbundenen Tätigkeiten außerhalb des Berufs ausschließen würde, was hätte dies für Folgen für die Diagnostizierung und Behandlung von Menschen mit depressiven und anderen psychischen Störungen?

 

Tatsächlich kann kein Psychologe und kein Psychiater Gedanken lesen. Die Diagnose psychischer Störungen ist eng mit der Auskunftsbereitschaft der direkt Betroffenen und gegebenenfalls auch der Personen in ihrem sozialen Bezugsfeld verbunden. Es ist nach wie vor ein großes Problem, dass sich Betroffene oftmals bemühen, ihre psychischen Beschwerden vor ihrem Umfeld zu verbergen. Selbst gegenüber Psychologen und Psychiatern können sie dies nicht selten durchaus mit Erfolg tun, ein Phänomen, welches als Dissimulation oder auch als doppelte Buchführung bezeichnet wird. Gründe hierfür sind Scham, aber auch Angst vor Einschränkungen, Zwangsmaßnahmen und Diskriminierung.

 

Tatsache ist, dass mögliche Risiken von psychischen Erkrankungen für die betreffenden Personen und auch für ihr Umfeld am stärksten reduziert werden können, desto treffsicherer und frühzeitiger eine psychische Störung erkannt und einer angemessenen Behandlung zugeführt werden kann. Hierfür aber ist die Mitarbeit der Betroffenen und ihres sozialen Umfeldes von essentieller Bedeutung. Diese Mitarbeit wird gefördert durch ein Klima des Vertrauens, der Akzeptanz und der Hilfeleistung, gemindert wird sie durch ein Klima von Angst, Kontrolle und Zwang.

 

Genauso kontraproduktiv würde sich auch eine derzeit diskutierte Aufhebung der Schweigepflicht auswirken. Ein solcher Schritt würde das Vertrauen zwischen Patienten und Therapeuten zerstören und damit die Diagnostizierung und Behandlung psychischer Störungen erheblich erschweren.

 

Emotional mag es verständlich sein, dass sich nach jeder Katastrophe, zu der tatsächlich oder mutmaßlich eine psychische Störung beigetragen haben mag, Stimmen verstärken, die stringente Kontrollen und den Ausschluss potentiell unter entsprechenden Störungen leidender Menschen von allen möglichen riskanten Tätigkeiten einfordern. Gibt die Gesellschaft aber diesen Stimmen nach, zerstört sie das Vertrauen von Menschen mit psychischen Störungen und ihres sozialen Umfeldes in die psychologisch-psychiatrischen Hilfsmöglichkeiten, regt Prozesse der Dissimulation und der doppelten Buchführung an, verhindert die Integration von Betroffenen in angemessene Behandlungsmaßnahmen und  würde damit am Ende das potentielle Risiko durch Menschen mit psychischen Störungen verursachter Katastrophen nicht senken, sondern steigern.

 

Gerade wenn sich Rufe nach Kontrolle und Zwang verstärken, ist es die Aufgabe aller im Gesundheitssystem  vertretenen Professionen, es nicht zuzulassen, dass sich der Blick der Gesellschaft auf die Sachverhalte verstellt und nicht mehr rational, sondern emotional reagiert wird. Der Schutz der Gesellschaft vor durch Menschen mit psychischen Erkrankungen verursachten Katastrophen kann am besten gewährleistet werden, wenn Stigmatisierungsprozessen kein Raum gelassen wird und Betroffene sich auf die Professionalität wie auch auf die Vertraulichkeit und Hilfsbereitschaft der zur Verfügung stehenden psychologisch-psychiatrischen Diagnose- und Behandlungsstrukturen verlassen können. Wenn Menschen aber nicht Behandlung und Rehabilitation, sondern den Verlust von Laufbahnen, beruflichen Träumen oder ihrer aktuellen Arbeitstätigkeit erwarten, wird dies Grundvertrauen zerstört und psychische Störungen bleiben so verborgen. Die Zukunft wird womöglich Auskunft darüber geben, ob auch im aktuellen Fall die Furcht vor Konsequenzen der Grund für die Nicht-Abgabe vorliegender Krankschreibungen durch den Co-Piloten war. Am Ende könnte diese Furcht dazu geführt haben, dass 150 Menschen ihr Leben verloren.

 

Aber Gesellschaften können noch mehr tun, als Betroffene und potentiell Betroffene zu ermutigen, offen mit ihren psychischen Probleme umzugehen. Sie können darüber hinaus einen Beitrag zur Prävention psychischer Erkrankungen leisten. So zeigen Studien mit Luftfahrtspersonal, dass depressive Störungsbilder dann zunehmen, wenn Luftfahrtsgesellschaften Instabilitäten zeigen und die  Arbeitnehmer sich dadurch bezüglich ihres Arbeitsplatzes oder seiner Struktur als bedroht erleben. Die Gewährleistung ökonomischer und sozialer Sicherheit, die Minimierung von arbeitsrechtlichen Konflikten und Auseinandersetzungen sowie von Mobbing am Arbeitsplatz können insofern wirksame Maßnahmen sein, um der Entwicklung depressiver und anderer psychischer Störungsbilder entgegenzuwirken. Je besser das Arbeitsklima und je vertrauensvoller Menschen an ihren Arbeitsplätzen miteinander umgehen können, desto seltener treten psychischer Störungen auf und desto eher können ihre Folgen durch Integration in effektive Behandlungsmaßnahmen begrenzt werden.

 

All dies ist komplizierter und wirkt weniger direkt, als einfach Menschen vom Pilotenberuf auszuschießen, wenn psychische Labilitäten sichtbar werden. In Wirklichkeit ist die Erkennbarkeit psychischer Labilitäten aber ein hochgradig schwieriger und fehleranfälliger Prozess, der umso mehr erschwert und fehleranfälliger wird, desto weniger Vertrauen die Betroffenen haben, dass es nicht um Zwang, sondern um Hilfe geht. Was wir also aus der Katastrophe schießen sollten, ist, dass wir unsere Bemühungen verstärken sollen,  die Arbeitsplätze von Piloten (und allen anderen Beschäftigten) so zu gestalten, dass ihre psychische Gesundheit gefördert und nicht beschädigt wird und dass wir darüber hinaus ein Klima des Vertrauens schaffen sollten, in dem sich Menschen mit psychischen Beschwerden und Problemen ohne Angst oder Scham an die zur Verfügung stehenden Behandlungsstrukturen wenden können. Wenn wir dies beides tun, dürften wir am ehesten die Wahrscheinlichkeit von durch Menschen mit psychischen Erkrankungen verursachter Katastrophen senken.

 

Darüber hinaus gilt natürlich, dass technische Möglichkeiten für mehr Sicherheit ausbaufähig sind und weiterer Optimierungsbedarf immer bestehen wird, auch wenn es tragisch ist, dass er manchmal erst dann sichtbar wird, wenn eine Katastrophe bereits eingetreten ist.

 

Bei aller Unsicherheit ist es aus psychologischer Sichtweise sicher, dass die Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen und Problemen kein geeigneter Weg ist, um zu mehr Sicherheit zu gelangen.

 

Dr. Guido F. Gebauer

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Kommentar von Ekhard |

Sehr geehrter Herr Dr. Gebauer,
bei allem Respekt, aber "offenbar erweiterter Suizid".....bitte ersetzen Sie diese Aussage zum jetzigen Zeitpunkt durch "möglicherweise erweiterter Suizid".

Es ist bedauerlich, dass den Spekulationen überall Tür und Tor geöffnet wird.